Was ist selektiver Mutismus?
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Selektiver Mutismus „ist ein dauerhaftes, wiederkehrendes Schweigen in bestimmten Situationen (z.B. im Kindergarten, in der Schule) und gegenüber bestimmten Personen (z.B. gegenüber allen
Personen, die nicht zum engsten Familienkreis gehören). Dieses Schweigen tritt auf, obwohl die Sprechfähigkeit (grundsätzlich, Anm.d.Verf.) vorhanden ist. Ebenso ist die Redebereitschaft gegenüber
einigen wenigen vertrauten Personen in vertrautem Umfeld gegeben“ (Bahr, 2002, 14).
Menschen mit selektivem Mutismus machen von ihren sprachlichen Möglichkeiten nicht in dem Maße Gebrauch, in dem diese entwickelt worden sind. Sprech- und Hörfähigkeit sind vorhanden. Es liegen i.d.R.
keine organischen, peripheren oder zentralen Schädigungen der am Sprechen beteiligten Organe, Nerven oder Zentren vor.
Kinder, die in Untersuchungs-Situationen nicht sprechen, kennt wohl jeder Arzt und jede Ärztin: Die ungewohnte Situation, fremde Personen, die etwas verlangen oder auch das
„Auf-Anhieb-funktionieren-Sollen“ können Gründe dafür sein. In der Regel findet sich jedoch ein Weg, der den Zugang zum Kind erlaubt, so dass dieses schließlich –zumindest- Fragen beantwortet.
Was jedoch, wenn auch beim zweiten und dritten Untersuchungstermin (sei es bei der Schul- oder einer anderen Untersuchung) das Sprechen verweigert wird, folglich keine Aussage über die Fähigkeiten
des Kindes gemacht und keine Diagnose gestellt werden kann? Wenn Befragungen der Eltern ergeben, dass auch im Kindergarten, der Schule sowie mit Fremden, aber auch bekanntem Besuch zu Hause nicht
verbal kommuniziert wird, während das Kind unter anderen Bedingungen sehr wohl zum Sprechen in der Lage ist?
Dann könnte es sich um „Nicht-Sprechen unter bestimmten Bedingungen“, dem sog. selektiven Mutismus handeln. Ein Phänomen, das begrifflich nicht selten mit „Autismus“ verwechselt wird, und welches es
von „normaler Schüchternheit“ abzugrenzen gilt.
In der ICD-10 wird selektiver Mutismus von (reaktiven und enthemmten) Bindungsstörungen unterschieden (F.94.0). Zudem wird zwischen selektivem und totalem Mutismus differenziert. Während Ersterer
sich auf bestimmte Bedingungen und Personen bezieht, wird beim totalen Mutismus, der meist als Reaktion auf traumatische Erlebnisse - und sehr selten - entsteht, der sprachliche Kontakt zu allen
Menschen eingestellt.
Häufigkeit von selektivem Mutismus
Aktuellen Anglo-amerikanischen Untersuchungen zufolge sind ca. 0,7% aller Kinder vom selektiven Mutismus betroffen (Brown 2005, Schwarz & Shipon-Blum 2005). Darunter sind überproportional viele
Mädchen, womit der selektive Mutismus die einzige Sprach- bzw. Sprechstörung ist, bei der dies der Fall ist (Schoor 1995, Bahr 1996). Im Verhältnis zum – sehr viel bekannteren - Autismus sind knapp
doppelt so viele Kinder vom Mutismus betroffen (Brown 2005)! Diese werden häufig aufgrund der terminologischen Ähnlichkeit und der – z.T. ähnlich erscheinenden - Symptome verwechselt. Eine
differentialdiagnostische Abklärung ist jedoch dringend notwendig, weil die entsprechenden Diagnosen völlig andere therapeutische Konsequenzen notwendig machen.
Das Schweigen tritt zu 79% im Vorschulalter, in der Regel mit 3 Jahren erstmals auf (wenngleich davon auszugehen ist, dass die den Mutismus bedingenden Umstände bereits früher existieren - oft werden
die Strukturen jedoch erstmals mit Kindergarteneintritt sichtbar). Trotz dieses jungen Erstmanifestationsalters vergehen oft Jahre, bis fachkundige Hilfe gesucht wird. Dies liegt zum Einen daran, das
den Eltern das Problem meist erst spät bewusst wird, da die Kinder zu Hause „normal“ sprechen und zum Anderen daran, dass das Phänomen – in allen Professionen und Bereichen - in Deutschland noch
immer wenig bekannt ist bzw. nicht ausreichend ernst genommen wird (im Gegensatz z.B. zu den USA).
Abgesehen davon, dass diesen Kindern viele sprachlich-sprecherische Erfahrungen durch ihr Schweigen entgehen und damit ihre Sprachentwicklung über die kommunikativ-pragmatischen Möglichkeiten hinaus
gefährdet ist, steht ihnen die Sprache als Mittel der Erkenntnisgewinnung nicht in dem Maße zur Verfügung wie anderen Kindern, die jederzeit Fragen stellen können, so dass auch ihre kognitive
Entwicklung bedroht ist. Des Weiteren sind Betroffene auch nonverbal oft wenig handlungsfähig: Viele nehmen an Dialogrunden und anderen Gruppenangeboten sowie Regelspielen nicht Teil, vermeiden
Spiel- und Gesprächskreise, so dass auch weniger soziale und motorische Erfahrungen gemacht werden können. Da zudem die (nicht nur sprachliche) Identitätsentwicklung gefährdet ist, sind Kinder mit
selektivem Mutismus in vielerlei Hinsicht von Behinderung bedroht. In 50-70% der Fälle existieren bei Nicht-Behandlung bis ins Erwachsenenalter hinein Kommunikationsstörungen, Sprechängste und
Rückzugstendenzen (Esser 2003, 289). Zudem ist die Dauer des mutistischen Verhaltens Prädikator für die wei-tere Entwicklung und Remissions-Chancen. Dabei gilt eindeutig die Regel: Je früher
interveniert wird, desto größer die Chancen auf eine Rückbildung der pathologischen Strukturen (Esser 2003, 289; Brown 2005, 4).
Symptome, Merkmale und Ursachen des selektiven Mutismus
Um die Symptome des selektiven Mutismus zu beschreiben, ist zunächst die Differenzierung zwischen verbalen und non-verbalen Mitteln der Kommunikation not-wendig. Verbale Kommunikationsmittel
betreffen die „Sprache im engeren Sinne“, also die Sprechsprache mit ihren Modalitäten. Non-verbale Mittel bezeichnen „Sprache im weiteren Sinne“, d.h. Gestik, Mimik, Blickkontakt und aufeinander
bezogene Bewegung.
Bei selektiv mutistischen Kindern sind in der Regel (unter spezifischen Bedingungen) beide Ebenen der Kommunikation betroffen.
Im Folgenden werden zwei Kardinalsymptome aufgeführt, die erkennbar sein müssen, wenn vom Störungsbild des selektiven Mutismus gesprochen wird. Des Weiteren wird eine Auswahl bedeutender
Sekundärmerkmale dargestellt, die häufig im Zusammenhang mit selektivem Mutismus beobachtet werden, nicht jedoch auftreten müssen (vgl. Bahr 1996a; Kramer 2004, 50).
Kardinalsymptome:
Sekundärmerkmale:
Dabei kann nicht von monokausalen Zusammenhängen zwischen Kardinalsymptomen und Sekundärmerkmalen ausgegangen werden. Es ist in der Regel nicht eindeutig bestimmbar, ob beispielsweise eine
Sprachentwicklungsverzögerung Ursache oder Folge des Nicht-Sprechens ist. In der Regel bedingen diese Faktoren einander wechselseitig bzw. sind durch die zurückliegende Entwicklung nicht mehr
eindeutig voneinander zu trennen. Fakt ist jedoch, dass neben den kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten in 50% der Fälle (Kolvin/Fundudis 1981. In: Esser) noch andere Bereiche der Sprachentwicklung
(Aussprache, Grammatik und /oder Wortbedeutungsentwicklung) auffällig sind, so dass dies genauer zu erfragen wäre.
In den meisten Fällen kennen Eltern das Problem extremer Schüchternheit oder Angst (bis hin zu Panikattacken) aus der eigenen Kindheit oder Jugend, womit eine weitere diagnostische Fragestellung
Hinweise auf die Existenz des selektiven Mutismus geben kann. Die Stress-Symptomatik lässt sich erkennen an einem allgemeinen Hypertonus, der sich insbesondere im Bereich des Rumpfes und /aber der
Arme und Hände manifestieren kann. Auch einer „starren Mimik“, fehlendem oder auch sehr intensivem Blickkontakt kann die Stress-Symptomatik entnommen werden.
Ein große Gruppe der Kinder mit selektivem Mutismus stammt aus Immigrantenfamilien und wächst zwei- oder mehrsprachig auf (vgl. Bradley & Sloman 1975, bzw. Kracht/Schümann 1997). Auch wenn der
Migrationshintergrund und die häufig nicht ausreichende Wertschätzung gegenüber den Muttersprachen dieser Kinder einen nicht unbedeutenden Teil des Ursachengefüges des Mutismus aus- und eindeutig
auch andere pädagogische Konzepte erforderlich machen, die den vielerorts vorherrschenden (multikulturellen) Bedingungen gerecht werden (vgl. Kracht/Schümann 1997), handelt es sich doch um
„behandlungsbedürftigen“ Mutismus, dem durch professionelle Beratung und Therapie entgegengewirkt werden kann und sollte.
Die häufig beobachtbare symbiotische Mutter-Kind-Bindung kann ebenfalls Folge des mutistischen Verhaltens oder aber Folge eines „Kulturschocks“ infolge der Immigration, einer schlechten
sozio-ökonomischen Lage oder anderer Bedingungen und damit eine Ursache des selektiven Mutismus darstellen. In jedem Fall kann sie zunächst dazu dienen, selektiven Mutismus zu erkennen.
Ein weiteres diagnostisch interessantes Faktum ist, dass viele der betroffenen Kinder aus ländlichen Regionen stammen (vgl. Rösler 1981). Ein dominanter Sprechstil der Mutter bzw. innerhalb der
Familie kann ebenfalls als Folge oder Ursache des Mutismus fungieren. Auch dieser ist beobachtbar.
In 50-70% der Fälle gibt es keine (mehr oder minder spontane) Remission. Diese von den „potentiell chronischen“ zu differenzieren ist wohl nur in der Retrospektive sicher möglich. Belegt ist jedoch,
dass es Möglichkeiten gibt, „Risikokinder“ zu erkennen und die Gefahr einer Manifestation der Kommunikationsstörung samt all ihrer Folgen für die Sprach- und Identitätsentwicklung z.T. schon durch
einige Beobachtungs- und Beratungsstunden deutlich zu reduzieren.
Was ist zu tun? Intervention / Therapie
Um die pathologischen Kommunikations-Strukturen aufzubrechen bzw. um deren Fortentwicklung zu vermeiden, ist die Verordnung von Sprachtherapie so früh wie möglich indiziert. Dies ist angezeigt, wenn
das Schweigen länger als 4 Wochen, bzw. länger als 8 Wochen bei mehrsprachigen Kindern besteht. Dabei kann es sich zunächst um einige Beobachtungs- und Beratungsstunden handeln oder um explizite
Therapie der kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten des betroffenen Kindes im Zusammenhang mit umfassender Beratung des Umfeldes. Inwiefern ergänzend eine Psychotherapie notwendig ist, hängt von den
Entstehungsbedingungen des Mutismus ab. In den wenigsten Fällen liegt dem Nicht-Sprechen jedoch ein traumatisches Erlebnis zugrunde. Dies einzuschätzen ist Aufgabe des Arztes, kann jedoch auch nach
einigen Sitzungen mit dem Sprachtherapeuten reflektiert werden.
Die kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten stellen eine von vier Bezugsebenen der Sprache und ihrer Entwicklung dar. Folglich gehört der selektive Mutismus zu den Sprachentwicklungsstörungen (vgl.
Braun 1999, 286). Auf der Verordnung (Formblatt 14) muss der Indikationsschlüssel SP1 angegeben werden. In der Re-gel werden zunächst 10 sprachtherapeutische Sitzungen verordnet. Dies ist bis zu 60
Sitzungen ohne weitere Diagnostik möglich. Es ist jedoch auch möglich, zu-nächst nur 2-5 Sitzungen für eine genaue differentialdiagnostische Abklärung und erste Beratung zu verordnen.
Es sind verschiedene Modelle der Intervall-Therapie oder der phasenweisen Begleitung möglich. Allerdings sind Hausbesuche in diesem Fall i.d.R. unabdingbar, da die Beobachtung und Begleitung bzw.
Therapie in verschiedenen Kontexten notwendig ist.
Inhalte der Therapie sind nach differenzierter kompetenzorientierter, förderungsrelevanter Diagnostik i.d.R. die Förderung der nonverbalen Möglichkeiten des Kindes bis hin zur systematischen
Förderung einfacher verbaler Mittel mit zunehmender Komplexität für das jeweilige Kind.
Einen großen Teil der sprachtherapeutischen Intervention macht die Beratung von Eltern und anderen Familienangehörigen, ErzieherInnen und/oder LehrerInnen aus sowie die Bildung einer tragfähigen und
vertrauensvollen Beziehung zwischen Kind und Therapeut.
Was den Einsatz von Psychopharmaka angeht, gibt es Berichte über den Einsatz von Fluoxetin, doch – wie in der Therapie kindlicher Verhaltens-Störungen allgemein - sollte der Einsatz von Medikamenten
aufgrund der Nebenwirkungen, Gewöhnungseffekte und vor allem in Anbetracht vorhandener Behandlungs-Alternativen stets kritisch hinterfragt, vor allem jedoch niemals ohne begleitende sprach- oder
verhaltenstherapeutische Interventionen und zeitliche Begrenzung erwogen werden!
Hinweise für den Umgang mit Kindern mit selektivem Mutismus bzw. Anregungen für Eltern sind im „Faltblatt für Eltern“, im „Faltblatt für Erzieherinnen“ und im „Faltblatt für LehrerInnen“ enthalten,
die ebenfalls auf dieser Seite heruntergeladen werden können. In größeren Mengen können Sie auch unter unserer Adresse bestellt werden (Kontakt).
Weiterführende Literatur:
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